Federn lesen. Eine Literaturgeschichte des Gänsekiels von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert. Von Martina Wernli. Göttingen: Wallstein, 2021. 568 Seiten + 65 farbige und s/w Abbildungen. €49,00 gebunden, open access eBook.

Sebastian Böhmer
Von Martina Wernli. Göttingen: Wallstein, 2021. 568 Seiten + 65 farbige und s/w Abbildungen. €49,00 gebunden, open access eBook.

Seit etwa 30 Jahren beschäftigen sich Literaturwissenschaftler_innen intensiv mit der Materialität des Schreibens und der Schrift. Lange Zeit dominierten theoretische und praxeologische Ansätze, während sich kulturwissenschaftlich motivierte Arbeiten vor allem mit dem materiellen Resultat des Schreibakts beschäftigten, meist dem beschriebenen oder bedruckten Papier. Mittlerweile werden jedoch auch die Instrumente des Schreibens sowie deren Diskursivierungen verstärkt in den Blick genommen. In den gelungenen Fällen legen diese Arbeiten dann die Bedingungen der Möglichkeit des Schreibens an den Schreibgeräten selbst oder am Schreiben über die Schreibgeräte offen.

Die vorliegende Habilitationsschrift von Martina Wernli (Goethe-Universität Frankfurt a.M.) ist an dieser methodischen Schnittstelle von Kultur- und Literaturwissenschaft angesiedelt und lässt sich als Beitrag zu einer materiell informierten Philologie lesen. Im Zentrum des umfangreichen Buches steht eines der wichtigsten Schreibinstrumente der europäischen Kulturgeschichte: die vorwiegend aus Gänsefedern hergestellte Schreibfeder. Diese untersucht Wernli aus zahlreichen Perspektiven, z. B. als realen Gegenstand, der uns in Archiven oder Museen überliefert wurde, als benutzbares, allerdings immer erst aufwändig vorzubereitendes Objekt tierlichen Ursprungs und in zeichenhafter Form in der – von der Autorin sinnvoll weit aufgefassten – Literatur. Für letzteres führt sie den schönen, leider im Folgenden nicht voll entfalteten Terminus „Textfeder“ (20) ein, der „materielle sowie geistige Komponenten“ (21) vereinigen soll.

Das Buch beeindruckt durch seine Gelehrsamkeit. Die enorme Informationsfülle wurde intensiv, variantenreich und – trotz einer gerade noch zumutbaren Fußnotenflut – stets zugänglich aufbereitet, wobei das weitgehend unbekannte Material nicht selten verloren gegangenes Wissen wieder verfügbar macht. Der zeitliche Rahmen ist immens und wird chronologisch vom frühen Mittelalter bis zur Etablierung der Stahlfeder im späten 19. Jahrhundert abgeschritten: von Isidor von Sevilla über Johann Neudörffer den Älteren bis zu Georges-Louis Leclerc de Buffon, Annette von Droste-Hülshoff und Theodor Fontane. Zudem ist der Band reich und klug bebildert.

Der Standort des Buches innerhalb der bestehenden Forschung ist nicht leicht zu bestimmen, insbesondere, weil Wernli dazu tendiert, Forschungsergebnisse affirmativ heranzuziehen; Diskussionen oder auch nur Abwägungen finden außerhalb kurzer, dann ablehnender Bemerkungen kaum statt. Die Autorin selbst konstatiert einleitend eine unzureichende Forschungslage über ihren Gegenstand (30), doch stimmt diese Aussage nur für den kulturwissenschaftlichen Ansatz ihrer Arbeit, der dann auch über weite Strecken originell entfaltet wird; sie gilt aber nicht für den philologischen. Dieser wird von ihr unter dem Begriff „Schreibszenenforschung“ (33f.) in der Folge Rüdiger Campes und Martin Stingelins arg verengt eingeführt und verstellt den Blick der Autorin auf Aspekte jenseits der bloßen „Widerständigkeit des Materials“ (32). Daher sind manche der vorgelegten Befunde noch kein Ausweis einer „poetologischen Materialität oder einer materiellen Poetologie“ (258), vielmehr bedürfen sie – wie im Jean Paul-Kapitel überzeugend geleistet – der weiteren Kontextualisierung und Ausdeutung.

Dieser Eindruck wird verstärkt durch die von Wernli weitgehend unreflektierte Konkurrenzlosigkeit der Feder als Schreibgerät. So gibt Zedlers Universal-Lexicon 1743 zunächst einmal die produktionstechnische Monopolbestimmung, dass Schreiben „eigentlich nichts anderes [heißt], als mit Feder und Dinte gewisse Züge auf das Papier machen“ (Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste … Bd. 35, 1142) – erst im zweiten Definitionsschritt werden Ritzen, Graben und Mit-Farbe-Malen als weitere Formen des Schreibens erwähnt. Die materialreich gestützte Hauptthese des Buches, dass die Geschichte der Schreibfeder auch eine Geschichte der (west-)europäischen Literatur sei, wird dadurch nicht falsifiziert, erscheint aber weniger eindrücklich. Der Federnutzung z. B. Petrarcas geht eben keine bewusste Instrumentenwahl im systemtheoretischen Sinne einer Unterscheidung voraus, durch die die Bedeutung des gewählten Geräts und dessen literarisch-emphatische Darstellung überhaupt erst entstehen könnte. Und wenn Wernli diese Unterscheidungen – wie nach der Erfindung bzw. Verbreitung des Bleistifts und der Stahlfeder seit dem 18. Jahrhundert oder im Falle der frühmittelalterlichen Schreibgewohnheiten die Wachstafel – thematisiert, dann deutet sie sie nicht (medien-)theoretisch oder (medien-)semantisch, sondern symbolisch, historisch, produktionspraktisch oder autorschaftspolitisch, so dass manches Ergebnis etwas überanstrengt wirkt.

Die größte Schwierigkeit in der Beurteilung des Buches liegt jedoch darin, dass die Autorin von einem Gegenstand ausgeht, nicht von einem Problem; streng genommen liegt hier ja gar kein Forschungsproblem vor. Und so wissen wir nach der Lektüre sehr viel mehr und sehr viel Interessantes über den realen und den literarischen Gegenstand Schreibfeder, aber unser Blick auf diesen Gegenstand hat sich nicht verändert. Es ist daher umso unverständlicher, weshalb Lothar Müllers fulminante Geschichte des Papiers, Weiße Magie (2012), nicht einmal erwähnt wird. Denn nicht nur ist sie Wernlis Publikation thematisch, sondern auch im methodischen Ansatz eng verwandt. Doch Müller hat ein vielfältig reflektiertes Narrativ für seinen Gegenstand entwickelt und eine materiell informierte Philologie damit methodisch vorangebracht: die Ausbreitung und den Rückzug des Schreibmaterials Papier nämlich. Wernli bleibt dagegen stationenhaft, reiht Unterkapitel an Unterkapitel und berichtet letztlich, wo Müller ,erzählt‘.

Der Wert dieser kenntnis- und materialreichen Arbeit liegt daher in den einzelnen Studien. Zahlreiche Passagen bringen neues, zum Teil spektakuläres Material und sind sehr lesenswert; zudem lassen sie sich mit verschiedensten Forschungsinteressen fruchtbar verbinden. Wernlis Buch wird mit einigem Recht ein Referenzwerk werden für jeden, der sich über die Kulturgeschichte der Schreibfeder informieren möchte.