Was ist das Verhältnis von Dichtung und Musik, wie lässt es sich einerseits direkt beim Lesen bzw. Hören erfahren, wie lässt es sich anderseits methodisch-analytisch beschreiben? Sind Musik und Dichtung laut Friedrich Kittler durch die universale Sprache und Einbildungskraft problemlos miteinander zu vermitteln, wie es die Ästhetik um 1800 annahm, oder tritt diese idealistisch freie Übersetzbarkeit der Künste um 1900 zurück zugunsten einer Transposition, die den materialen Möglichkeiten und Grenzen schriftlicher, akustischer und visueller Medientechnologien gehorchen muss? Projiziert die jeweilige Kunst ihre eigenen ästhetischen Ziele auf die andere, um dort Erkenntnisse und Verfahrensweisen zu finden, die sie bei sich selbst vermisst? Gibt es eine hermeneutische Metasprache, in der sich über historische Unterschiede hinweg die jeweils eigene Sinnhaftigkeit der Musik und der Dichtung durch wechselseitige Ergänzung entziffern lässt?
Mein Fragenkatalog will andeuten, dass dieses Thema für eine interdisziplinär orientierte Literatur- bzw. Musikwissenschaft ebenso zentral wie immer noch weiterer Antworten bedürftig ist. Thomas Martinec geht der Fragestellung in seiner gründlichen Studie dadurch nach, dass er Kontinuitäten, Adaptionen und Revisionen des Zentraltopos der musikalischen Unsagbarkeit in der Poetik von der Romantik bis zur Moderne um 1900 rekonstruiert. Martinec macht plausibel, dass die romantische Poetik, und nach ihr die Moderne, ein eigenes Selbstverständnis entwickelte durch eine radikale Vorstellung von “absoluter”, also nicht mehr begrifflich und mimetisch repräsentierend ausgerichteter Musik, einer Musik also, die allein ihrer rein “figurativen”, tönend-auditiven Autonomie gehorcht. Erschlossen werden sollte so eine transzendente Sphäre der Unendlichkeit und Unausprechlichkeit, die sich über die begriffliche Normalsprache und die Misere des alltäglichen Lebens erhob. Überzeugend zeigt Martinec, wie derartige Überlegungen nicht immanent aus der Musik selbst entstanden (ungeachtet, so ließe sich ergänzen, der in Kompositionen stattfindenden Selbstreflexion des Materials). Vielmehr ist die nicht-begriffliche Autonomie der Musik zumindest zum Teil eine Projektion der literarischen Ästhetik und ihres eigenen Verlangens nach einem Sprachmaterial, das losgelöst von der begrifflich-mimetischen Semantik allein oder weitgehend den selbst-referentiellen Eigentönen gehorcht.
Hier entdeckt Martinec für die Poetik um 1900 eine grundsätzliche Aporie, „denn jeder Versuch, der Poesie mit den Mitteln der Sprache über ihre eigenen Grenzen hinwegzuhelfen, muss zwangsläufig in Widerspruch mit sich selbst geraten“ (19). So unvermeidlich aber, meine ich, ist diese Aporie nicht. Wie der Verfasser selbst zeigt, zeugt ja schon in der Romantik und besonders in der Moderne die kühn-innovative Metaphernsprache von einer selbstkritischen Tendenz innerhalb der Poetik, die ihre grenzüberschreitende Sehnsucht nach der vermeintlichen Autonomie der reinen Töne immer wieder von sich aus in Frage stellt. Dieser Prozess ist naturgemäß unendlich, eine Erkundung von poetisch-musikalischen Möglichkeiten, die noch ihr eigenes Scheitern künstlerisch produktiv auslotet, ohne notwendigerweise in unauflöslichen Widerspruch zu sich selbst zu geraten.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Poesie um 1900, „das Unsagbare“ zwar nicht direkt auf den logisch-analytischen Begriff bringen, trotzdem aber, wie der Verfasser es ausdrückt, „darstellen kann“ (19). Aber geht es nicht eher darum, dass in der Romantik wie in der Moderne weniger das Unsagbare zur Repräsentation („Darstellung“) gebracht werden soll, sondern vielmehr die Schwierigkeit als solche, sprachlich über das Unsagbare als Unsagbares zu reflektieren? In diesem Sinne verstehe ich beispielsweise Tieck und Wackenroder, deren fiktiver Tonkünstler Berglinger darauf besteht, dass Sinfonien „in räthselhafter Sprache das Räthselhafteste“ innerhalb „ihrer rein-poetischen Welt“ enthüllen (85–86). Hier „enthüllt“ sich doch nicht das Wesen des rätselhaft Unsagbaren selbst, sondern gerade die Einsicht, dass dieses Unsagbare unlösbar und unauflösbar an eine Sprache gebunden ist, die selbst rätselhaft, also letztlich nicht entzifferbar ist, obwohl sie sich auch noch dieser eigenen Geheimnisartigkeit kritisch bewusst ist. So soll in der romantischen Poesie meines Erachtens eben nicht „das Unsagbare, von dem behauptet wird, dass es allein der Musik zugänglich sei, also doch noch zur Sprache gebracht werden“, wie Martinec vorschlägt (98). Sicher stimmt es, dass E.T.A. Hoffmann meint, eine Komposition wie Beethovens 5. Sinfonie führe „den Zuhörer unwiderstehlich fort in das Geisterreich des Unendlichen“ (102). Aber eben diese Unendlichkeit impliziert doch, dass nicht das Unsagbare selbst erfahren werden soll, sondern eher das Streben danach, die unendliche Hingabe an eine „unaussprechlich[e] Sehnsucht“, wie Hoffmann schreibt (zitiert nach Martinec 100–101). Diese Sehnsucht aber ist nicht mit dem Unsagbaren selbst gleichzusetzen, das sich angeblich in der Musik „rein ausspricht“, wie Martinec andeutet (101). Zu Hoffmanns schöner Formulierung zum ersten Allegro der besagten Sinfonie – es beängstige die Brust mit der „Ahnung des Ungeheuern, Vernichtung drohenden [sic!]“ – merkt Martinec etwas lax an: „was auch immer man sich hierunter vorzustellen hat“ (103). Nun ja, das genau will Hoffmann sagen: Das Rätselhaft-Unsagbare in Beethovens Musik erzeugt, weil es nicht durch die Vorstellung entschlüsselt werden kann, eine angstvolle Ahnung, die nie ans Ziel ihres Strebens nach Erkenntnis gelangt und deshalb das menschliche Subjekt zu vernichten droht, bis im „lieblich[en] Thema in G dur“ allegorisch eine „freundliche Gestalt glänzend […] die tiefe grauenvolle Nacht“ erleuchtet (zitiert nach Martinec 102–103). Gleichwohl, das sei konzediert, ist Hoffmanns Denken über das Unsagbare selbst einigermaßen in sich widersprüchlich, denn er behauptet auch: „Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf“ (100). Eine unaussprechliche (und vermutlich unstillbare) Sehnsucht nach etwas Transzendentem jenseits der „äußern Sinnenwelt“ ist schwerlich mit dem „Aufschließen“ dieser Sphäre vereinbar.
Gerade wegen dieser Unschärfen des Topos des Unsagbaren ist vieles an Martinecs nuanciertem Auffinden der Spuren und Echos, Einflüsse und Umdeutungen der romantischen Musikpoetik in der Moderne sehr aufschlussreich. Ausführlich rekonstruiert der Verfasser die Vorgeschichte der romantischen Positionen – antike Rhetorik, barocke Poetik, aufklärerischer Rationalismus – wobei sich eine „Verabschiedung der frühneuzeitlichen Vorstellung von rhetorisch-funktionalen Tönen in der Poesie“ zugunsten einer „Autonomie von Tönen […], die die Sprache (damals) nicht zuließ“ abzeichnet (14). Später führen andere zahlreiche Stimmen – Schopenhauer, Nietzsche, Wagner, Mauthner, Mallarmé u.a. – auf oft verschlungenen Wegen zum poetisch-musikalischen Programm von Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und schließlich der avantgardistischen Lautpoesie. In ihr erreicht diese Tradition eine schier unüberbietbare Radikalität, denn „aus der Einsicht in die Undarstellbarkeit der Welt durch Worte“ soll die „Darstellung der Welt ohne Worte“ erzielt werden, und zwar auf der „Basis der Vorstellung von autonomen Tönen in der Instrumentalmusik“ (275).
Prägnant formuliert Martinec, dass Georges „symbolistische Adaption des romantischen Musikbegriffs“ ebenso ambivalent wie kontrovers „die Enthüllung des Verborgenen ebenso wie die Verschlüsselung des Offenkundigen, die Darstellung des Unsagbaren ebenso wie die Mystifizierung des Sagbaren“ ermöglicht (154). Bei Hofmannsthal betont der Verfasser zu Recht, dass es dem fiktiven, ungemein eloquenten Verfasser des Lord-Chandos-Briefs nicht einfach um die in der Forschung oft beschworene Sprachkrise im Allgemeinen und ein vollständiges Verstummen geht, sondern um ein musikalisch inspiriertes Gewinnen eines nicht begrifflich fixierbaren und nur deshalb „unsagbar[en] Erleben[s]“ spontan-intuitiver Präsenz und Unmittelbarkeit (164).
Besonders anregend ist Martinecs Rilke-Deutung. Der Verfasser geht aus von einer programmatischen Polarität von tatsächlicher, performativer Musikwiedergabe, deren mutmaßlich überwältigendem Rausch Rilke kritisch bis verständnislos gegenüber stand, und einer faktisch tonlosen, aber als metaphysischer Grund für die Poesie und Welterfahrung fungierenden Musik-Metapher. Ob Rilkes Auffassung typisch ist für eine im 19. Jahrhundert stattfindende Verschiebung des philosophischen und musikästhetischen Interesses von „Musik als performativer Kunst“ zur „metaphysischen Ursache dieser Kunst“ (220), bleibe in dieser Allgemeinheit freilich dahingestellt; der philosophische Schriftsteller und Komponist Wagner etwa hat ja maßgeblich beide Aspekte reflektiert. So wichtig Martinecs Betonung der Rilke’schen Musikmetaphysik ist, so stellt sich die Frage, ob Rilkes durchgehende Verwendung musikalischer Metaphern tatsächlich darauf ziele, eine „unsagbare Ursache der Poesie“ zu beschreiben, die „zugleich unhörbar“ sei (220). Geht es nicht eher darum, dass der musikalische Ursprung der Dichtung zwar in der Tat unsagbar, aber eben deswegen durchaus hörbar ist? Freilich ist diese auditive Erfahrung der metaphysischen Musik keine direkte, sondern durch die reale Objektwelt jenseits der Begriffssprache und des fixierenden Sehens vermittelt. So wird in Rilkes programmatisches Gedicht „Mir zur Feier“ die entzaubernde Feststellung der Dinge durch die Begriffssprache abgelehnt zugunsten einer real-auditiven Erfahrung: „Die Dinge singen hör ich so gern“, bis erst der Menschen Wort sie „starr und stumm“ macht (217). Zwar schreibt der Dichter in einem der Eingangsverse zum Florenzer Tagebuch, er könne nur schweigen und staunen, fügt aber hinzu: „Konnte ich einmal auch tönen?“ (258). Und besonders in den „Notizen zur Melodie der Dinge“ ertönen das durchaus akustisch reale „Singen einer Lampe oder die Stimme des Sturms“ sowie „das Atmen des Abends oder das Stöhnen des Meeres“ als die Äußerung „ein[er] breit[en] Melodie“, in die das vereinzelte Subjekt einzustimmen habe (259). Hier erklingt die metaphysisch wirkende Musik zwar nicht direkt, in der Aufführung durch musikalische Instrumente, wohl aber akustisch durchaus real wahrnehmbar in der Vermittlung durch andere, material präsente Phänomene. Gerade weil den musikalisch ungeschulten Dichter die performative Musik nicht berührte, tönt ihm also die gesamte Welt in ihrer Vielfalt und affektiven Intensität als wirklich hörbare. Rilkes Ausführungen in dieser Art wörtlich zu verstehen eröffnet erst die ungemein radikale Phänomenologie seiner poetischen Arbeit. Andererseits, das klingt auch bei Martinec an, bedarf dieses Lauschen auf die Welt nicht nur und immer der physiologischen Aufnahme durchs Ohr, sondern auch der erfinderischen Einbildungskraft. So bedenkt Malte Laurids Brigge in seinen Aufzeichnungen, dass dem tauben Beethoven die Welt nahte, „lautlos, eine gespannte, wartende Welt, unfertig, vor der Erschaffung des Klanges“ (263). Sicher sind es die „tonlosen Sinne“ des Komponisten, die ihm die Welt entgegen bringen. Aber was Beethoven hier hört, vermutlich durch ein gesamt-körperliches Spüren, ist weder nur Stille und Schweigen noch eine reale Konzertaufführung, sondern etwas Drittes jenseits dieser Polarität, nämlich die Potentialität einer Musik, die im wahrsten Sinne hörbar ist, als imaginär zu realisierende Möglichkeit, als Phantasie, Versprechen und Erwartung. Dieses imaginäre Hören aber erfährt Klänge als genauso bedeutungsvoll und präsent wie physisch-akustische Daten.
Gern gebe ich zu, das die Differenzen zwischen Martinecs und meiner Lesart in der hermeneutischen Vieldeutigkeit der musikalisch inspirierten Poetik der Romantik und Moderne selbst liegen könnten. Gerade das aber bezeugt die Wichtigkeit des Unsagbarkeits-Topos für die Poetik dieser beiden maßgeblichen Epochen und ihres offenen oder unterschwelligen Zusammenspiels. Martinecs Studie bietet eine wesentliche Bereicherung und Anregung zum Weiterdenken auf diesem zwar nicht unsagbaren aber unerschöpflichen Forschungsgebiet.