Was sind literarische Figuren?

Neue Beiträge der Forschung

Armin Schäfer

Abstract

(Anderson, Amanda, Rita Felski, and Toril Moi, Character: Three Inquiries in Literary Studies, 2019—Garber, Marjorie, Character: The History of a Cultural Obsession, 2022—Kunin, Aaron, with illustrations by David Scher, Character as Form, 2019—Missinne, Lut, Ralf Schneider und Beatrix van Dan (Hrsg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Fiktionalität, 2020—Stoicea, Gabriela, Fictions of Legibility: The Human Face and Body in Modern German Novels from Sophie von La Roche to Alfred Döblin, 2020.)

Character. Three Inquiries in Literary Studies. By Amanda Anderson, Rita Felski, and Toril Moi. Chicago, London: The University of Chicago Press, 2019. 170 pages. $20.00 paperback, $19.99 eBook or pdf.

Character. The History of a Cultural Obsession. By Marjorie Garber. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2022. 443 pages. $32.00 hardcover, $20.00 paperback, $12.99 eBook.

Character as Form. By Aaron Kunin, With Illustrations by David Sher. London etc.: Bloomsbury Academic, 2019. 242 pages. $99.00 hardback, $31.45 paperback, $25.16 eBook or pdf.

Grundthemen der Literaturwissenschaft: Fiktionalität. Herausgegeben von Lut Missinne, Ralf Schneider und Beatrix van Dan. Berlin, Boston: De Gruyter, 2020. 623 Seiten. $193.99 hardcover, eBook or pdf.

Fictions of Legibility. The Human Face and Body in Modern German Novels from Sophie von La Roche to Alfred Döblin. By Gabriela Stoicea. Bielefeld: transcript, 2020. 197 pages. $60.00 paperback, open acccess pdf.

I.

Die literaturwissenschaftliche Forschung hat zu klären versucht, was literarische Figuren sind und wie sie gemacht, gelesen und verstanden werden (vgl. Jannidis). Sie hat ein Fundament gelegt für neuere Arbeiten, die auf rezente Entwicklungen in Literaturtheorie, Technologie, Politik und Gesellschaft reagieren, die ihrerseits den traditionellen Begriff der literarischen Figur oder auch des character infrage stellen. Im Folgenden soll anhand neuerer Arbeiten zur Literaturtheorie, zur Theorie und Geschichte der Fiktion sowie zur Kulturgeschichte des character auf einige ausgewählte Aspekte hingewiesen werden, die für eine weitere Erforschung literarischer Figuren von Interesse sind.

Im Alltag bezeichnet der Terminus ‚Person‘ zumeist einen individuellen Menschen, der nicht namentlich benannt, sondern zu dem mittels seiner Bezeichnung als ‚Person‘ eine gewisse Distanz eingenommen wird (vgl. Brasser 11–15). Die Philosophie hingegen „sieht in der Bezeichnung des Menschen als ‚Person‘ eine Merkmalszuschreibung, die allen Menschen unabhängig von individualisierenden Konkretionen zukommt“ (Brasser 16). Die terminologische Unterscheidung von Mensch und Person lenkt, ungeachtet ihrer alltäglichen oder auch philosophischen Ausgestaltungen, das Augenmerk darauf, dass Menschen zu Personen gemacht, aber ihnen damit häufig auch Anerkennung und Würde genommen werden, die sie unveräußerlich qua Geburt besitzen (siehe auch Mauss 221–252). Unterscheidungen von Mensch und Person sind unweigerlich in ethische, soziale und politische Debatten (vgl. Cavell 591–608) verwickelt und erfolgen heutzutage nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Technologien, die Avatare und ‚digitale Zwillinge‘ erzeugen, welche ihrerseits auf das Verständnis, was literarische Figuren seien, zurückwirken.

Der Übergang vom alltäglichen Wortgebrauch zum literaturwissenschaftlichen Terminus ist im Englischen fließend. Character bezeichnet im Englischen nicht nur Charakter und Wesen, sondern auch Personen und fingierte Menschen oder menschenähnliche Wesen in literarischen Texten und auf dem Theater. Das Oxford English Dictionary (OED) definiert character als „[t]he sum of the moral and mental qualities which distinguish an individual or a people, viewed as a homogeneous whole; a person’s or group’s individuality deriving from environment, culture, experience, etc.; mental or moral constitution, personality“. Das Wort wird, so das OED weiter, aber auch zur Bezeichnung von Personen in literarischen und anderen Darstellungen gebraucht: „A person portrayed in a work of fiction, a drama, a film, a comic strip, etc.; (also) a part played by an actor on the stage, in a film, etc., a role“. Person, so wiederum das OED, bezeichnet einen „character in a play, dramatic role,“ und „human being in general“. Schließlich stellt das OED heraus, dass der Terminus character auch auf Eigenschaften einer Person, auf das Spezifische, Besondere oder Typische einer Person abstellt: „A person having specified qualities or of a particular description; a specified type of person“.1

Die Schwierigkeiten, welche die literaturwissenschaftliche Terminologie bereitet, reichen weit über Zuschnitt und Einteilung des semantischen Felds der Begriffe ‚Mensch‘, ‚Person‘, ‚Figur‘, ‚Charakter‘ und ‚Rolle‘ im Deutschen und Englischen hinaus. Denn literarische Figuren oder auch characters sind Personen nicht in gleicher Weise wie Menschen im Alltag, und es ist eine offene Frage, ob und wie ein literarischer Text zwischen ‚Mensch‘, ‚Figur‘, character und ‚Person‘ unterscheidet und wie seine Unterscheidungen auf die alltäglichen Termini zu beziehen sind.

Insofern sind exemplarische Untersuchungen vonnöten, die den unterschiedlichen Arten und Weisen gelten, wie literarische Figuren konstituiert und zu Personen gemacht werden. Rüdiger Campe hat die Institutionalisierung der Romanfigur Ulrich in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften nachgezeichnet und die „erzähltechnische Formierung seiner Person als ihre Institutionalisierung in der Wirklichkeit des Romans im weitesten, aber auch grundlegendsten Sinne“ (Campe 37) begriffen. Die Institutionalisierung der literarischen Figur als Person in der Diegese, so die grundlegende Einsicht, fällt „nie mit einer bestimmten Institution zusammen“ (Campe 37). Auch wenn seit dem 18. Jahrhundert der Roman mit Bildungsprozessen und Institutionen wie Schulen oder Fabriken eine handgreifliche Schauseite des Person-Werdens verhandelt, sind Personen durch eine Thematisierung der Institutionen, in denen sie geformt werden, noch nicht hinreichend gekennzeichnet. Vielmehr erkennt Campe im Person-Werden der literarischen Figur in Musils Roman „die tiefste und entscheidende Ebene der Institutionalität“ (Campe 37) und stellt grundlegende Überlegungen an: „Die Frage, die erzähltechnische Figur und thematische Person aufeinander bezieht, betrifft [ … ] die moderne Romanperson in ihrem Kern. Romanperson wäre dann das innere Verhältnis zwischen erzählbarer Figur und rechtlich-moralischer Person“ (Campe 64). An der Form der Person können, so Campe, zwei Seiten unterschieden werden:

Die erste Seite bildet die erzähltechnische Kohärenzbildung der Figur, die Dauerstellung der Möglichkeit sich fortlaufend auf sie zu beziehen. Diese reine Dauerstellung bildet die narrative Unterseite der Person im Roman. Die andere Seite ist der institutionell-normative Gehalt des Personseins. (Campe 65–66)

Die Form der Person im Roman ist, so lässt sich folgern, weder von ihrem narrativen Gemacht-Sein noch von ihrer Fiktionalität abzulösen, noch ist ihr Person-Werden ohne die Spielregeln, die außerhalb literarischer Texte die Institutionalisierung von Menschen als Personen bestimmen, zu begreifen. Insofern wären Beschreibungen, denen zufolge der Mensch in einem Prozess der Bildung zur Person geformt wird oder er in Institutionen eintritt, um dort zur Person geformt zu werden, mit Beschreibungen zu verflechten, die den Menschen als außerliterarischen Rohstoff zunächst einklammern, um das komplexe Verhältnis von Mensch, Figur und Person in der Literatur zu beleuchten. Einerseits sind der Erwerb von Bildung und der Eintritt von Figuren in Institutionen nur Sonderfälle der unzähligen Weisen, wie die literarische Institutionalisierung von Personen statthat; andererseits vollzieht die Konstitution einer literarischen Figur bereits ein Stück weit deren Institutionalisierung als Person.

II.

Amanda Anderson, Rita Felski und Toril Moi sind unzufrieden mit den „frameworks that have dominated literary studies over the last few decades“ (Anderson, Felski und Moi 2). Sie beklagen, dass Literaturtheorien, die das Fach in Nordamerika beherrschen, es haben verkennen lassen, warum überhaupt Romane, Erzählungen und Theaterstücke gelesen werden (vgl. Moi; Felski, Uses of Literature; Felski, The Limits of Critique; Felski, Hooked). Gegen die Lektüren von Philosoph_innen, Soziolog_innen und Laien, die sich womöglich mit literarischen Figuren identifizieren, sie als Beispiele für ihre Argumentationen anführen oder aber sie auch nur mit Freude und Gewinn betrachten, steht der Vorbehalt, dass solche Gebrauchsweisen letztlich für die Wissenschaft irrelevant seien. Das herrschende Verständnis von characters im Fach sei geprägt durch „critical norms that arose with the professionalization of literary studies and continued into the era of New Criticism, post-structuralism, ideological criticism, and cognitive literary studies“ (Anderson, Felski und Moi 3). Es gelte „the taboo on treating characters as if they were real people, what it means to identify with characters, and the experience of thinking with characters” (Anderson, Felski und Moi 1). Je strikter das Verbot gehandhabt wurde, desto weltfremder sei die Literaturwissenschaft geworden, die ohnehin den Kontakt zum ordinary reader zu verlieren drohe.

Anderson, Felski und Moi benutzen literarische Figuren als Hebel, um weit verbreitete Auffassungen über das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit zu hinterfragen und insbesondere den Status von Fiktionen zu problematisieren. Unter literarischen Figuren werden in der Debatte, über die hier berichtet wird, zumeist die Figuren in fiktionalen Erzähltexten (und bisweilen im Drama) verstanden. Die Literaturwissenschaft hat lange Zeit die referentielle Dimension der Figur überbewertet und den Anteil der Sprache an ihrer Konstitution vernachlässigt. Gegen diese Auffassung trat der Strukturalismus an, der einfach geschnittene referentielle Illusionen zu zerstreuen suchte und darauf insistierte, dass literarische Figuren als Effekte des Pronomengebrauchs, rhetorischer Techniken und narrativer Verfahren zu begreifen seien. Gegen New Criticism, Strukturalismus und Poststrukturalismus, die lange Zeit die Literaturwissenschaft geprägt haben, sind nunmehr Anderson, Felski und Moi angetreten. Ludwig Wittgenstein, J.L. Austin und Stanley Cavell sind die Gewährsmänner ihres Plädoyers für eine Pluralisierung der Literaturtheorie. So wie die Ordinary Language Philosophy die unterschiedlichen Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke untersucht, um ihre Bedeutung zu erklären, so soll die Literaturwissenschaft auch die Gebrauchsweisen von characters erforschen, die nicht zuletzt Leser_innen unterschiedliche Angebote zur Identifikation unterbreiten. Man kann den Anspruch des Fachs auf Wissenschaftlichkeit nicht durch eine Abwertung alltäglich-immersiver Lektüre untermauern, sondern muss solche Lektürepraktiken untersuchen. Identifikation, so will insbesondere Felski zeigen, ist weder mit Empathie oder auch Mitleid gleichzusetzen, noch ist sie Konsequenz oder Effekt einer einfühlenden Haltung des Lesenden gegenüber den characters. Der Blick auf die Arten und Weisen, wie Leser_innen in Diegesen impliziert sind oder in sie hineingezogen werden, fördert zutage, dass Figuren eben nicht von ihren Umgebungen abzulösen sind und anderes und mehr sind als schattenhafte und flüchtige Chimären: „Characters are not real persons; they are real fictional beings!“ (Felski, Identifying with Characters 85).

Die Literaturwissenschaft kann den Kurzschluss von Mensch, Figur und Person auflösen und konkrete Analysen ihrer Verhältnisse anstellen. Das Instrumentarium für solche Analysen könnte allerdings noch verbessert und differenziert werden. Es ist nämlich keineswegs geklärt, wie Erzählen und Fiktionsbildung bei der Konstitution literarischer Figuren ineinandergreifen. Das Handbuch Fiktionalität aus der Reihe Grundthemen der Literaturwissenschaft führt in seinen Beiträgen aus, dass Fiktionalität mittels logischsemantischer Analysen nur eingeschränkt zu fassen ist und auf das Feld historischer Untersuchungen gezogen werden sollte. Zum einen entsteht Fiktionalität im Wechselspiel von u.a. rhetorischen Techniken, narrativen Verfahren und performativen Strategien, wird sie durch Medien gerahmt, durch Gattungen mitkonstituiert, wird durch Leseanweisungen in Paratexten gesteuert, wie Leser_innen sie begreifen sollen; zum anderen aber unterliegt das Zusammenspiel dieser Faktoren einem steten Wandel (vgl. Missinne, Schneider und van Dan). Das Erzählen ist zwar ein besonders wichtiger Faktor bei der Errichtung von Fiktionen und literarischen Figuren, aber auch nur eine abhängige Variable.

Die Mediävistik hat auf den historischen Wandel von Voraussetzungssystemen hingewiesen, die Figuren zuallererst funktionieren lassen. So regiert ein Voraussetzungssystem die Produktion (Darstellung, Beschreibung, Erfindung) von Figuren. Dann regiert ein (zumeist anderes) Voraussetzungssystem die Arten und Weisen, wie solche Figuren (später) gelesen werden. Außerdem sind die Voraussetzungssysteme in einem stetigen Wandel begriffen und keineswegs homogene Blöcke, die einander in historischer Folge ablösen. Und nicht zuletzt wirkt solch ein Voraussetzungssystem wie ein blinder Fleck: Man bemerkt nicht, dass etwas nicht gesehen wird, obwohl es im Sehfeld liegt. Insofern sind Überlegungen, wie sie für die mittelalterliche Literatur angestellt wurden, weit über die Mediävistik hinaus zu bedenken:

Literarische Figuren erwecken ganz selbstverständlich den Anschein, echte Menschen zu sein. Was uns die Texte nicht über sie erzählen, vor allem aber ihr Innenleben, ergänzen wir spontan aus unserem eigenen Erfahrungsschatz, aus unseren eigenen Gefühlen und Gedanken, wenn wir uns vorstellen, in der gleichen Situation zu sein. Das funktioniert selbst dort, wo die Figuren eigentlich recht blaß bleiben, weil wir, wie etwa im Fall von Märchen, nur dasjenige erfahren, was die Figuren tun. So lernen wir lesen, und wir können es zunächst gar nicht anders. Eltern verständigen sich mit ihren Kindern über Geschichten, indem sie mit ihnen darüber reden, warum jemand etwas tut. Lehrer versuchen ihre Schüler für leicht angestaubte Texte zu begeistern, indem sie sie dazu auffordern, sich mit den Figuren zu identifizieren, sich in sie hineinzufühlen. Die Frage, die im Deutschunterricht und später dann im Germanistikstudium am häufigsten gestellt wird, ist diejenige, warum etwas in einem Text geschieht. Schüler und selbst noch Studierende im Hauptstudium beantworten sie fast ausschließlich von den Figuren her, indem sie versuchen, die Emotionen, Intentionen und Gedanken der Protagonisten zu rekonstruieren und darin dann Gründe für die erzählten Handlungen zu suchen (Schulz 8).

Zweifellos ist nicht jeder Gebrauch, der von erzählenden Texten möglich ist, in der Wissenschaft auch sinnvoll. So warnt eine Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive,

daß es zum einen nicht statthaft ist, das, was die Texte nicht erzählen, durch modernes psychologisches Alltagswissen aufzufüllen, daß es jedoch zum anderen unbedingt notwendig, wenn auch ausgesprochen mühsam ist, das entsprechende Voraussetzungssystem mittelalterlicher Texte zu erschließen. (Schulz 4)

Die Voraussetzungssysteme für literarische Figuren sind aber weitaus flexibler als es der Literaturwissenschaft (und auch Autor_innen) lange Zeit erschien. Und sie hängen offensichtlich von kulturellen und medialen Rahmungen ab, die ihrerseits auf die Konstitution konkreter Figuren durchschlagen können und in hübsche Paradoxien führen. So kann zum Beispiel schon Daniel Defoe im Vorwort zu seinem Roman Moll Flanders erklären:2

Die Lesewelt ist in letzter Zeit so sehr mit Romanen und erfundenen Geschichten überschwemmt, daß es die Lebensbeschreibung einer Privatperson, welche überdies deren Namen und sonstige Umstände verheimlicht, schwer haben wird, für echt gehalten zu werden; aus diesem Grund müssen wir dem Leser frei stellen, sich über die nachfolgenden Blätter seine eigene Meinung zu bilden und sie nach seinem Ermessen für echt oder unecht zu nehmen. (Defoe 7)

Angesichts der Komplexität, die in literarischen Figuren steckt, scheint eine gewisse Persistenz älterer Konzepte und Vorstellungen bemerkenswert. Die Literaturwissenschaft konnte am Gegensatz zwischen den Wörtern auf dem Papier und literarischen Figuren vielleicht derart hartnäckig festhalten, weil sie vermeintlich über ein einfaches Erklärungsmodell verfügte, wie der narrative Diskurs literarische Figuren konstituiere. Die Narratologie untersucht Beziehungen zwischen Aussagen und ihrer Produktionsinstanz, die mit Gérard Genette zumeist als ‚Stimme‘ bezeichnet werden und an die Nahtstellen zwischen Diskurs und literarischem Text führen (vgl. Blödorn, Langer und Scheffel). Diese Produktionsinstanz erscheint in literarischen (und vor allem auch in fiktionalen) Texten zumeist als eine Subjektivität, die ihrerseits einer Figur attribuiert werden kann. Die Personalpronomina, insbesondere die erste Person Singular, spielen hierbei eine wichtige Rolle. Sie stellen lose Verbindungen zwischen Sprache und Diskurs her und regieren sprachliche Anordnungen, die eine Subjektivität hinstellen. Insofern kann diese Subjektivität als sprachlicher Ausdruck einer konkreten Person aufgefasst werden (vgl. Benveniste, Die Natur der Pronomen 283). Oder aber die Subjektivität wird als ein Effekt erklärt, der sich beim Gebrauch des Pronomens unweigerlich einstellt (vgl. Benveniste, Über die Subjektivität in der Sprache 293). Das Erzählen – und einzig das Erzählen – erlaubt es, die Subjektivität einer dritten Person wie die der ersten Person hinzustellen (vgl. Hamburger 79–80; Genette 137). Die erste Person konstituiert eine dritte Person aber nicht schon dadurch, indem sie über sie spricht, sondern beide Personen sind Teil ein und desselben sprachlichen Gefüges, das über das Ich, das spricht, hinausreicht (vgl. Deleuze und Guattari 360).

Gegen solche Modelle, wie eine literarische Figur konstituiert werde, steht mittlerweile der Einwand, dass characters weder durch ihre Subjektivität3 noch durch ihre Einzigartigkeit, Individualität und Singularität gekennzeichnet sind. Andrew Piper hat an einem Korpus von 7.500 Romanen mit mehr als 650.000 Figuren zeigen können, „that while characters do appear to represent a distinctive semantic space in novels, they are more constrained and homogeneous than other aspects of narration“ (Piper 121). Characters sind in hohem Maße typisiert und auch in ihrer sprachlichen und literarischen Gemachtheit von hoher Regelmäßigkeit. Auch wenn sie bei Leser_innen den Eindruck von Individualität und Unverwechselbarkeit erwecken, können Analysen aufzeigen, wie characters beispielsweise überpersönliche Typen verwirklichen, alt eingeführte Codes für Darstellungen benutzen und nicht zuletzt Klischees bemühen.

III.

Die Literaturtheorie hat die Figur nicht zuletzt als Funktion ihrer Handlungen aufgefasst, so wie es Vladimir Propp in einer Typologie der Charaktere des Märchens – der Held, Helfer, Bösewicht, der falsche Held, der Spender, Stifter usw. – ausgeführt hat (vgl. Propp 31–66). Die Wurzeln dieser Auffassung reichen bis in die Antike zurück, die mit Theophrasts Charakteren eine Typologie aufstellte, die zum Vorbild immer neuer Typologien wurde. Marjorie Garber skizziert in Character. The History of a Cultural Obsession eine Rezeptionsgeschichte des Theophrast, die von Molière und La Bruyère über Lytton Strachey bis zu Roland Barthes reicht (vgl. Garber 322–348; vgl. für die deutschsprachige Literatur Canetti). Sie demonstriert, wie prägend die Auseinandersetzung mit Shakespeares dramatic characters für unser herrschendes Verständnis wurde, was Figuren und Charaktere seien. Seit dem 18. Jahrhundert werden die Leser_innen nicht müde zu wiederholen, dass Shakespeares characters einen Anschein von Lebendigkeit erzeugen, als ob sie ‚echte‘ Menschen oder Personen wären. Garber zeichnet einen Rezeptionsstrang nach, in dem der psychologische Diskurs auf literarische Figuren in vergleichbarer Weise Bezug nimmt wie auf Menschen oder Personen. Shakespeares characters werden als Modelle für Affekte, Emotionen, Verhaltensweisen, Einstellungen benutzt oder dienen der Psychologie zur Illustration derselben. Sie waren (oder sind), ebenso wie fiktive Personen aus Romanen, der Öffentlichkeit zumeist bekannter als die meisten anderen Leute und liegen der psychologischen und psychiatrischen Forschung bereits in allgemein zugänglichen Darstellungen vor.

Der psychologische Diskurs über characters musste ein Problem lösen, das mit dem der Klassifikation des Tierreichs vergleichbar ist, über dessen Grundlage – den Begriff der Art – seit dem 18. Jahrhundert in Naturgeschichte und Biologie gestritten wurde (vgl. Foucault, Die Situation Cuviers). In der Natur gibt es nur Individuen. Arten müssen also an Beispielen demonstriert werden. Man kann immer nur auf ein Individuum als eine/n typische/n Vertreter_in einer Art zeigen, aber niemals auf die Art selbst. Und außerdem ist unklar, welchen ontologischen Status die Art besitzt: Ist sie eine Einheit, die es in der Natur selbst gibt und die von ihren Beschreibungen unabhängig ist? Oder ist die Art nur ein Konstrukt, das keine von ihren Beschreibungen unabhängige Wirklichkeit besitzt? Die Psychologie muss in ihren Beschreibungen in vergleichbarer Weise plausibel vom einzelnen, individuellen Menschen abstrahieren und zu einer inhaltsärmeren Empirie übergehen, um Oberbegriffe bilden zu können, die das bloß Individuelle, Akzidentielle und Zufällige, das dem Individuum inhärent ist, nicht mehr bezeichnen. Die wissenschaftliche Erkenntnis beginnt sozusagen oberhalb des Individuums, das immer nur Träger oder Repräsentant eines character ist. Michel Foucault hat früher schon auf das „kleine Problem“ hingewiesen, „daß gegen Ende des 18. Jahrhundert etwas aufgetaucht ist, was man die ‚klinischen‘ Wissenschaften nennen könnte; das Problem des Eintritts des Individuums (und nicht mehr der Spezies) in das Feld des Wissens“ (Foucault, Überwachen und Strafen 246). In diese Absenkung der epistemischen Schwelle ist auch die Literatur verwickelt, welche „die beliebige, die gemeine Individualität“ (Foucault, Überwachen und Strafen 246) in den Blick nimmt und für sie zuallererst Beschreibungen entwickelt.

Aaron Kunin wendet sich in seiner Studie Character as Form gegen die Auffassung, dass characters als Individuen aufzufassen seien und verfolgt stattdessen die These, dass sie vielmehr Vertreter von Typen sind. Auch wenn diese These nur für die von ihm ausgewählten Beispiele überzeugt, die von Shakespeare bis ins 20. Jahrhundert reichen, aber auch aus Theater und Film stammen, kann sein Befund, dass literarische Figuren anderes und mehr sind als Individuen, weitere literaturwissenschaftliche Analysen anstoßen. Literarische Figuren sind einer weit verbreiteten Auffassung zufolge von ihren Umgebungen ablösbar und können sich wie Menschen freizügig bewegen, sofern man sie lässt. Es gibt literarische Figuren, die über die ursprüngliche Diegese, in der sie konstituiert wurden, hinaus ein Art Eigenleben entwickelt haben und etwa in fan fiction eingehen (vgl. Zemanek); es gibt Figuren, die jenseits der Literatur als Vertreter eines psychologischen oder sozialen Typus gelten und von deren Namen in Psychologie und Psychiatrie bisweilen sogar Bezeichnungen für Syndrome und Krankheitseinheiten abgeleitet worden sind (vgl. Gaderer und Peeters), beispielsweise das Felix-Krull-Syndrom, der Bovarysmus oder das Oblomov-Syndrom; es gibt Figuren, die von einer Diegese in eine andere fluktuieren (wie Vautrin in den Romanen von Balzacs La Comédie Humaine oder Albertine Simonet, die von Proust zu Jacqueline Rose und Anne Carson gelangte). Keineswegs ist ausgemacht, wo eine literarische Figur auf der Schwelle zwischen Individuum und Typus angesiedelt ist. Und mit der Ausweitung des Gegenstandsbereichs auf dramatische Charaktere und deren Verkörperungen kommt es zu einer weiteren Verkomplizierung der Problemstellung. Umberto Eco hat für ebenso robuste wie flexible Unterscheidungen plädiert, die Existenz nicht als das dominante Merkmal literarischer Figuren begreifen. Anstatt eine fiktive Person als einen defizienten, weil unterdeterminierten Modus zu begreifen, ist vielmehr als deren Vorzug herauszustellen, dass sie in epistemologischer Hinsicht wohldefiniert ist: „Faktisch kenne ich Leopold Bloom besser als meinen eigenen Vater“ (Eco 82).

IV.

Die Literaturtheorie hat literarische Figuren lange Zeit als eine Art Hohlform oder Hülle begriffen, in die sodann eine individuelle Persönlichkeit eingelassen wird: „Wenn identische Seme wiederholt denselben Eigennamen durch-queren und sich in ihm festzusetzen scheinen,“ so führt Roland Barthes aus,

entsteht eine Person. Die Person ist also ein Produkt der Kombinatorik: die Kombination ist relativ stabil [ … ] und mehr oder weniger komplex (mit Merkmalen, die mehr oder weniger kongruent, mehr oder weniger widersprüchlich sind); diese Komplexität bestimmt die ‚Persönlichkeit‘ einer Person, die ebenso kombinatorisch ist wie der Geschmack einer Speise oder die Blume eines Weins. (Barthes 71)

Ungeachtet der Frage, ob die Persönlichkeit einer Person als eine Kombinatorik zu begreifen ist und Figuren tatsächlich wie Hüllen funktionieren, sind weder Rollen und Funktion der Namen literarischer Figuren noch die Merkmale und Kennzeichen, die eine Figur ausmachen, hinreichend erschlossen. Insofern sind Studien vonnöten, die aus einer historischen Perspektive verschiedene Dimensionen und Aspekte von Figuren erschließen. So lenken etwa die Namen in literarischen Texten das Augenmerk nicht zuletzt auf die Gebrauchsweisen literarischer Figuren. Einerseits gilt, dass Namen in literarischen Texten wie im Alltag funktionieren: „Die Art und Weise, in der Namen in Erzählungen fungieren, kann also nicht nur, sondern muß die Art und Weise sein, in der sie auch sonstwo fungieren“ (Davidson 276). Andererseits bieten Namen wesentliche Anhaltspunkte für Identifikation und reizen Leser_innen zur Projektion auf Figuren. Die grundlegende Einsicht der Onomastik besagt: Vornamen werden mit Bedeutungsabsicht gewählt. Die Namenkundler können zeigen, dass nicht nur Familiennamen, sondern auch Vornamen einen starken Nexus zu Herkunft und Klasse besitzen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Diversität der Vornamen gestiegen. Kinder wurden nicht mehr vorwiegend nach ihren Eltern, Großeltern, Paten und Verwandten benannt, sondern der Katalog der Vornamen wurde ausgeweitet. Die Namen literarischer Figuren sind also doppelt lesbar als kontingente Designatoren und als überdeterminierte Elemente eines Codes, der nicht allein zu entschlüsseln ist, sondern mitsamt einer appräsentierten, also mitgemeinten historischen Situation zu lesen wäre. Jedenfalls reicht es nicht hin, die Bedeutung des Namens zu decodieren. Die Namen kündigen weder ein Schicksal an noch sind sie dessen Ursache, sondern ein Ort, der eine historische Situation ausdrückt. Die Namen scheinen ihren Träger_innen, also den literarischen Figuren, aber eine Art schematischen Umriss oder auch ein Gesicht zu verleihen: Es gibt im Namen ästhetische, soziale und politische Aspekte, und die Wahl des Namens einer Figur ist niemals neutral, sondern selbst Ausdruck einer historischen Situation.

Nächst dem Namen sticht unter den Eigenschaften und Merkmalen, mit denen literarische Figuren ausgestattet werden, vor allem der Körper heraus. Gabriela Stoicea zeichnet in Fictions of Legibility. The Human Face and Body in Modern German Novels from Sophie von La Roche to Alfred Döblin nach, wie die Auffassung, dass im Körper der Charakter eines Menschen lesbar sei, zur Konstitution literarischer Figuren beiträgt. Sie verfolgt das Wechselspiel von Lesbarkeit des Körpers und Konstitution der Figur entlang ausgewählter Etappen nach, die durch Sophie von La Roches Geschichte des Fraüleins von Sternheim (1777), Friedrich Spielhagens Zum Zeitvertreib (1897) und Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf (1929) ihre Konkretion erfahren. Ungeachtet aller Einwände gegen die Physiognomik, die monieren, dass der Schluss von der Körperform auf den Menschen unzulässig sei, hat der Roman seinen Anteil an der Idee, dass am Körper etwas zur Sichtbarkeit gelangt, das den Charakter des Menschen enthülle. Die Persistenz der Idee, dass der Körper lesbar sei, überdauert noch die Austreibung der Seele aus dem Diskurs der Psychologie und Psychiatrie und ist von einer erstaunlichen Beharrungskraft: Die Theorie und Geschichte literarischer Figuren wird ohne fortlaufende Prüfung, Diskussion und Kritik der Codes, die Körper und Namen zuallererst lesbar machen, nicht auskommen.

Je genauer literarische Figuren in den Blick geraten, desto deutlicher wird: „Characters are by no means straightforward linguistic entities“ (Piper 124). Vielmehr sind sie über die Verschiedenheit der einzelnen Romane hinweg von erstaunlicher Regelmäßigkeit, deren Erklärung nicht zuletzt kulturgeschichtlicher Forschung bedarf: Characters „are much more similar to each other across novels than to the language of their own novel“ (Piper 130). Die ‚Verwechslung‘ literarischer Figuren mit Menschen scheint eine absichtliche Gebrauchsweise von Leser_innen zu sein, die verstanden haben, was für sie characters sind. Wolfgang Iser hat bereits 1976 im Rückgriff auf Roman Ingarden vorgeschlagen, die Aktivität von Leser_innen näher zu untersuchen: Der Akt des Lesens antwortet, so seine grundlegende Einsicht, auf Unbestimmtheit und Unterbestimmtheit in Texten, indem solche Leerstellen imaginativ aufgefüllt werden. Diese Modellierung des Leseakts ist mittlerweile auf eine zweite Stufe gesprungen, auf der sie in literarischen Texten eine Art spielerische Erprobung und Fortschreibung und in der Literaturwissenschaft eine Empirisierung erfährt. So hat Andrew Piper im Rückgriff auf die Autorin Rachel Cusk den Vorschlag unterbreitet, characters als outlines zu begreifen, d. h. als eine mehr oder weniger „stable narrative infrastructure, one that must be imaginatively filled in by the reader“ (Piper 130).

V.

Literatur ist ein Ort, an dem das alltägliche Verständnis, was ein character, was eine Person ist, wesentlich mitgeprägt worden ist. Jedenfalls gibt es nicht separat die alltägliche Welt, in der ausgehandelt wird, wie aus Menschen Personen gemacht werden, und zusätzlich noch die Literatur, in die das alltägliche Verständnis sodann importiert wird. Die Forschung untersucht Rollen und Funktionen des Erzählens und der Fiktionsbildung für die Konstitution von Personen in der Literatur und in der Welt; sie diskutiert die Implikation von Leser_innen und Zuschauer_innen in Theaterstücke und literarische Texte, die an literarischen Figuren ihre Anhaltspunkte findet und üblicherweise als Sympathie, Mitleid oder Identifikation gefasst wird; und sie hat mit den Instrumenten der Digital Humanities empirische Untersuchungen literarischer Figuren begonnen. Angesichts dieser Forschungen sind einfach geschnittene Modelle aufzukündigen, die literarische Figuren insgesamt unter ein theoretisches Dach stellten und mit einem übergreifenden Konzept fassten. Weder ist eine strikte Trennung von Wörtern auf dem Papier und Menschen in der Welt erforderlich, noch hat die Frage, was literarische Figuren sind und welchen ontologischen Status sie innehaben, überzeugende Antworten gefunden. Insofern sollte die Literaturwissenschaft ihren Blick auf die unzähligen Gebrauchsweisen richten, die von literarischen Figuren gemacht werden.

Footnotes

  • 1 Zur Bedeutung des deutschen Worts „Character“ als „unterscheidendes merkmal, kennzeichen, grundzug“ siehe Grimm.

  • 2 Den Hinweis verdanke ich Davidson, „Die Sprache der Literatur“ 274.

  • 3 Siehe z. B. Moi 61: „[O]rdinary language philosophy offers nothing we can call a ‘theory of the subject.’ In literary studies, the term is often used to designate Marxist, psychoanalytic, or Foucauldian ideas about how a human being’s consciousness is constituted. [ … ] As far as I know, neither Wittgenstein nor Austin ever discusses the ‘subject.’ They certainly don’t require us to hold a specific theory of what a ‘speaking subject’ must be like.“

Zitierte Literatur

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